Die Binnenräume der Menschen
Über die Ausstellungen des Fotografen Franz Meiller
Ganz selten nur ruft das Betrachten von Bildern die Erinnerung an einen Text wach. Im Fall von Franz Meillers neuen Fotoarbeiten jedoch geschieht es unmittelbar. Das ist kein Zufall, denn zwischen den von Meiller gestalteten Ausstellungen und den Sätzen des im Folgenden zu Wort kommenden Kunst- und Architekturphilosophen Franz-Xaver Baier besteht eine verblüffende Verwandtschaft:
„Der Lebensraum, in dem ein Mensch wohnt, sich bewegt und orientiert, ist für andere Menschen wesentlich unsichtbar. Wir sehen zwar die Leute, wie sie durch die Städte laufen. Aber wir sehen nicht, wie sie eingeräumt sind. Wir sehen nicht, was den Menschen erschlossen und verschlossen ist, was Bedeutung hat und was nicht. Wir sehen nicht die Raumkorridore und spezifischen Engpässe, die Stellen, die Angst machen und die Stellen, die wieder weiter machen. Kurz: Wir sehen nicht die Binnenräume der Menschen mit ihren persönlichen Landkarten und wir haben keinen unmittelbaren Zugang zu der Welt eines anderen“. (Franz-Xaver Baier)
Eine eigenartige Vertrautheit geht von diesen Sätzen aus. Doch woher stammt dieses Gefühl? Vermutlich daher, weil der Raumtheoretiker Baier durch Sprache einen Umstand zu fassen bekommt, der das tägliche, unaufhörliche Denken wie kein anderer beherrscht und strukturiert. Kaum ein Phänomen wirft so viele Fragen auf, wie jenes von der Rätselhaftigkeit und Unantastbarkeit der Binnenräume der Menschen. Zwar dauert es keine Sekunde, dem Wahrheitsgehalt der Beschreibungen Baiers zuzustimmen. Nicht selten ein ganzes Leben hingegen der Versuch, das Gegenteil zu beweisen. Denn darum geht es, wenn Menschen sich in Räumen begegnen: Um den unbedingten Wunsch, einen Zusammenhang herzustellen, wo es keinen gibt. Die eigene Neugier zu stillen mit Mutmaßungen über die Existenz der Anderen. Eine einzige, kraftraubende Wiederholungsschlaufe. Das ist das eine. Das andere: der widersprüchliche, stets aufs Neue durchgeführte Versuch ist unvergleichlich produktiv. Er initiiert das Verlangen, die sich stets erneuernde Erfahrung von Vergeblichkeit in etwas zu verwandeln, was nicht im Denkstrom des Einzelnen versickert. In Sprache, in Klänge, in Bilder. Gerade weil die Binnenräume der Menschen nicht zu fassen sind, muss man sie zu fassen bekommen. Und genau das ist es, was geschieht, wenn der Künstler Franz Meiller seine persönliche Landkarte zugänglich macht. Die fotografischen Arbeiten von Meiller, zumeist in großformatigen Bildpaaren angeordnet, erscheinen wie lang ausgehaltene Blicke auf genau jene Wirklichkeitsbereiche, die Franz-Xaver Baier Raumkorridore nennt. In ihnen kulminiert das Total aller vorstellbaren Möglichkeiten von Leben und Wahrnehmung:
eine im Sprung befindliche Person, die den oberen Rand einer Wand zu erreichen versucht; eine in beunruhigenden Rottönen fotografierte Hand, die beim Abrutschen tiefdunkle Spuren hinterlässt; die Momentaufnahme einer festlichen Gesellschaft, bei dem riesige fluoreszierende Lüster den Festredner überblenden; zwei halboffene blaue Telefonkabinen, in denen ein Kind zu telefonieren versucht. Indem Meiller zutiefst heterogene, jegliche Ort- und Zeitkoordinaten außer Kraft setzende Situationen versammelt, unterwandert er den Versuch, den von ihm gezeigten Bildern und Situationen Geschichten zuzuordnen.
„Raum von überfordernder Gleichzeitigkeit.“
Vielmehr erfindet er durch Anordnung und Format seiner Fotografien einen Raum von überfordernder Gleichzeitigkeit. Keine aus dem Zusammenhang gerissene, und daher unbegreifliche Einzelereignisse stellt Meiller vor; es ist der chaotische Erinnerungs- und Wahrnehmungsstrom als solches, den die Ausstellung thematisiert.
In diesem bilderreichen Strom geben die Widersprüche das Tempo an. Und lösen sich schließlich zugunsten einer solchen Wahrnehmung auf, die nicht mehr die Binnenräume der Anderen von den eigenen zu trennen sucht, sondern von der totalen und permanenten Durchdringung derselben ausgeht:
„Wir kommen nicht irgendwie in Raum und Zeit vor, sondern wir sind selbst räumlich und zeitlich. Wir existieren räumlich wie zeitlich. Wir müssen also Sein und Zeit und Raum durch unsere Existenz leisten. Das ist der radikale Sinn von Wirklichkeit.“ (Franz-Xaver Baier)
Malte Ubenauf
Inner Spaces of Others
On the exhibition by photographer Franz Meiller in the Münchener Stadtsparkasse (Munich Savings Bank)
It is rare indeed for contemplation of images to evoke memories of a text. Here, as one looks at Franz Meiller’s new photographs in the Munich Savings Bank premises, recall is instant. And that is not by chance, for the exhibition designed by Meiller and the words of the art and architecture philosopher Franz-Xaver Baier quoted below prove to share an astonishing affinity: “The space in which a person lives, moves and relates to the world remains essentially invisible. Yes, we see the people as they move to and fro in the towns. But we do not see the spaces that inwardly structure them. We do not see what in others’ perception is open and obvious and what is closed off, what matters to them and what does not. We do not see the corridors of space and the individual tight spots, the places that frighten them and the places where they open out again. In short, we do not see the inner spaces of others with their personal maps and we have no direct access to the world of any other person.” (Franz-Xaver Baier)
These statements bring a strange sense of familiarity. But why does this feeling arise? Perhaps because the space theorist Baier uses language to grasp a circumstance that, more than any other, dominates and shapes the daily unceasing flow of our thoughts. Scarcely any other phenomenon poses as many questions as that of the inscrutability and unbreachable privacy of the inner spaces of others. It is a matter of an instant to recognise the truth of Baier’s observations; but not uncommonly a lifetime is spent trying to demonstrate the opposite. For when people meet each other in spaces, that is what it is all about. It is about the imperative desire to establish relatedness where none exists. To satisfy one’s own curiosity with conjectures about the existences of Others. A single energy-sapping loop, round and round That is one side of it. The other side is that the self-contradictory, endlessly repeated endeavour is incomparably productive. It triggers the desire to transmute the endlessly recurring experience of vain effort into something that does not submerge and lose its identity in the thought-flow of the individual. Into language, into sounds, into images. That the inner spaces of others are beyond our grasp is the very reason for seeking a grasp on them. And this is precisely what happens when, here in the Munich Savings Bank, the artist Franz Meiller encourages access to his personal map. The photographic studies arranged by Meiller in the central gallery, most of them in large-format pairs, convey a sense of gazing long into those very aspects of reality that Franz-Xaver Baier calls corridors of space. In them is the culmination point of the totality of all imaginable ways of living and perceiving:
a person in the act of leaping, trying to reach the top of a wall; a hand photographed in disturbing reddish tones, scoring deep dark finger grooves as it slides down; the snapshot at a ceremonial assembly, with the image of the orator in full flow eclipsed by enormous radiant candelabras; the back view of a couple expecting something to happen; two half-open blue telephone kiosks from which a child is trying to make a call; reflections on the surface water of a city fountain. By assembling situations so heterogeneous as to unhook all co-ordinates of place and time, Meiller subverts any attempt to spin stories out of the images and situations he shows.
What he creates instead, working through both the arrangement and the format of his photographs, is a space of unmanageable simultaneity. It is not his way to present one-off happenings, torn from their context and thus baffling; the true subject of this exhibition is the chaotic flow of memory and perception, examined in its own right. Within that image-rich stream, the contradictions determine the tempo. And then when they are finally resolved, it is to give way to a new mode of perceiving, one that no longer seeks to mark off the inner spaces of Others from those of the perceiving self, but assumes complete and permanent interpenetration.
“We do not somehow crop up in space and time: we are ourselves spatial and temporal. Accordingly we must create being and time and space by our existence. That is the radical meaning of reality.” (Franz-Xaver Baier).
Malte Ubenauf