Balance-Akte
"Mein Paradox: ich bin ein obsessiver Mensch, aber meinem Geist gelingt es nicht, sich festzulegen." Diese Worte des rumänischen Autors und Philosophen E. M. Cioran könnten eine erste Spur legen in die Sammlung der neuen Fotoarbeiten Franz Meillers in der Münchner Galerie Kampl. Eine Spur, die genau an jener scharfen und kaum sichtbaren Kante entlangführt, die das Mögliche vom Unerreichbaren trennt, das Träumen vom Wachzustand, das Übermütige von der totalen Entkräftung. Eine Kante also, die kein sanfter Übergang ist, sondern ein unüberwindbarer Riss zwischen zwei Polen der Wirklichkeit. An den Rändern dieses Risses herrscht Unvereinbarkeit. Und damit genau jener Zustand, dem zu entkommen alle verfügbaren Kräfte aufgewendet werden. Immer wieder. Und immer wieder vergebens. Denn das Einwirken widersprüchlicher Kräfte auf das Denken und Handeln sind unvermeidlich, der stets wiederkehrende Aufenthalt an den Trennlinien und Rissen des Bewusstseins zwangsläufig und schmerzhaft.
Wenn Franz Meiller seine Ausstellung “Balance-Akte” nennt, dann verursacht er einen Riss in einem Wort, das eigentlich zusammengeschrieben wird. Er tut dies, weil “Balanceakte” als Einheit nicht existieren, weil keine Balance möglich ist auf der Spitze eines Messers, das Wollen, Können, Sehnen und Erleben permanent voneinander trennt. Entsprechend zeigt Meiller in seiner Ausstellung Bildergruppen äußerst gegensätzlichen Charakters. Einzeln gerahmt oder in Leuchtkästen gefasst, nebeneinander positioniert und irritierend unverbunden. Es sind spontane und inszenierte Situationen, Bilder und Dokumentationen von Theaterszenen, zufälligen Ereignissen, menschenleeren Umgebungen und vereinzelten Personen, die Meiller einander gegenüberstellt. Erzählungen von paradoxen Gefühlslagen, Unruhezuständen, fragilen Glücksmomenten, Alltagsritualen und gebremsten Leidenschaften.
Fast alle Bildkonstellationen tragen sehr konkrete Titel: Christbaumschmuck, Baulücke, Prater, Fußgängerzone. Diese Einfachheit der Betitelung ist verstörend, weil sie die Unvereinbarkeit von Begriffen und Empfindungen auf den Punkt bringt. Ein Titel jedoch ist anders. Er lautet: Desirevolution (übers.: Revolution des Wollens/Wünschens). Zwar bezieht das Wort sich auf den gleichnamigen Roman Matias Faldbakkens und eine Inszenierung der Regisseurin Christiane Pohle. Auf die Gesamtheit von Meillers Arbeiten bezogen jedoch erscheint es wie die einzig vorstellbare Brücke, die eine begehbare Verbindung zwischen den disperaten Bildgruppierungen andeutet. Dies, weil Desirevolution ein Wort der Unmöglichkeit ist. Und damit Ausdruck einer Obsession des Fotografen Franz Meiller, die vielleicht noch heftiger und tiefer ist, als alle Risse und Trennlinien, die das menschliche Handeln unnachgiebig polarisieren. Eine Obsession der künstlerischen Erfindungskraft. Eine, die danach streben lässt, sich die Paradoxien anzueignen, sie zu verdrehen und ihnen neue Namen zu geben. Denn so, und nur so, könnte sie möglicherweise gelingen: eine Desirevolution.
Malte Ubenauf