Franz Meiller [2polar]
Die Fotografie hat unsere Wahrnehmung der Welt geprägt und unser Verhältnis zur Wirklichkeit verändert. Sie ist, mehr noch als bewegte, erst recht als gemalte Bilder, das allgegenwärtige Medium unserer Zeit, beständiger Bestandteil unseres Alltags. Jedermann ist ihr als Rezipient in nahezu jeder Lebenslage ausgesetzt. Jedermann versucht sich zudem als aktiver Gestalter und verfügt über immer bessere technologische Möglichkeiten, sein Lebensumfeld und zunehmend sich selbst abbilden zu können.
Seit der Erfindung der Fotografie um 1839 wird immer wieder die Frage gestellt, ob ein Massenmedium Kunst sein kann. Selbst der bedeutende Fotograf Henri Cartier-Bresson (1908 – 2004) stellte klar: „Die Fotografie ist ein Handwerk. Viele wollen daraus eine Kunst machen, aber wir sind einfach Handwerker, die ihre Arbeit gut machen müssen.“ Henry Fox Talbot (1800 - 1877), der Erfinder des fotografischen Abzugs auf Papier, war aber bereits vor 160 Jahren der Ansicht, die Fotografie sei „eindeutig ein Werkzeug, das in die Hände des findigen Geistes und der Kunst“ gehöre.
Erste Anerkennung als Kunstform bekam die Fotografie durch die epochemachende, von Alfred Stieglitz (1864 - 1946) herausgegebene Fotozeitschrift „Camera Work“ und die gleichnamige New Yorker Ausstellung im Jahr 1917. Walker Evans (1903 - 1975) war der erste Fotograf, dem das Museum of Modern Art im Jahr 1938 eine monografische Ausstellung widmete. Der Ausstellungskatalog „American Photographs“ ist das erste Künstlerbuch in der Geschichte der Fotografie. Spätestens die von neun deutschen, niederländischen und schweizerischen Museen organisierte „Weltausstellung der Fotografie“, die 555 Fotos von 264 Fotografen aus 30 Ländern zum Thema „Was ist der Mensch?“ präsentierte, verhalf 1964 der Fotografie als Kunstform zum internationalen Durchbruch.
Trotzdem verstummen bis heute nicht jene Stimmen, die der Fotografie die Anerkennung als „autonome Kunst“ streitig machen. Tatsächlich sind Argumente wie „Der Fotograf kann die Welt nur abbilden, der Maler hingegen transzendiert die Wirklichkeit!“ oder „In der Fotografie kann allein deswegen nicht von einem Original gesprochen werden, weil sich von jedem Negativ bzw. von jeder digitalen Vorlage unzählige Abzüge herstellen lassen!“, längst widerlegt.
Die häufig gestellte Frage, welche Aspekte der fotografischen Produktion ihr einen Werkscharakter verleihen, ist von bedeutenden Fotokünstlern mit ihren Arbeiten hinreichend beantwortet worden. Franz Meiller ist einer von ihnen. Seine schöpferischen Ausdrucksmittel und seine eigensinnige künstlerische Wirkmächtigkeit beweisen eindrucksvoll, wie man mit dem nur in Zehntelsekunden zu erledigenden Festhalten=Gestalten eines AugenBLICKS Grenzen der Wahrnehmung überschreitet, verschiebt, neu auslotet und damit Sehgewohnheiten in freundlichster Weise bricht und anders sortiert. Die hohe Schule der Fotokunst: Vorgefundenes oder Arrangiertes durchSCHAUEN, leidenschaftlich und kühl kalkulierend erFASSEN, kongenial mit bestem Wissen und unterschiedlichen Apparaturen festHALTEN - immer in dem Bewusstsein, dem Betrachter mannigfache Möglichkeiten der Mit- und Nachgestaltung bieten zu können.
Die zwei Frauen auf der Straße (Zwei Frauen, München, 2016), die Schauspieler auf der Bühne (Hands Up, Otto Falckenberg Schule, 2011), stehen stellvertretend für die vielen Bilder, die dem Schauenden unterschiedlichste Räume der Phantasie und Imagination öffnen und ihn einladen, die jeweilige Geschichte in seiner Weise weiter oder ganz anders zu erzählen. Das gelingt bei der Auseinandersetzung mit fotokünstlerischen Werken immer, beim Betrachten von Abbildungen eher selten.
Meiller entdeckt, erkennt im Alltäglichen das Besondere, im Einzigartigen das Bekannte - in allem das Widersprüchliche und Ambivalente. Seine Aufnahmen aus Grönland (Grönland, 2012) oder Griechenland (Verdeckt, Griechenland, 2008) machen Leer- und Zwischenräume deutlich sicht-, mehr noch spürbar. Die in Düsseldorf (Abgespielt, 2007) und Leipzig (Ankunft, 2012) entstandenen, Ankunft und Abschied im Theater thematisierenden Bilder, setzen den Betrachter einem Wechselbad verheißungsvollen Aufbruchs wie beginnender Einsamkeit aus. Die Liste der Meiller interessierenden und umtreibenden Gegensätzlichkeiten ist lang. Ihn fasziniert das Schwarzweiße, Dunkelhelle, Buntgraue, Scharfverschwommene. Beeindruckend ist, wie unterschiedlich, wie wechselhaft sich Franz Meiller den Subjekten seiner künstlerischen Begierden nähert. Das Bild des an einem öffentlichen Telefon stehenden Jungen (Ohren, Kuba, 2014) ist eine Moment!Aufnahme, die nur dem gelingen kann, der sich Beobachtungsgabe, Blickweise und Spontanität eines Kindes erhalten hat. Franz Meiller findet und gestaltet Motive, aber Motive sind auch auf der Suche nach ihm. Das Werk [2polar] von 2016, Passanten vor einem Münchner Friseursalon, wurde mit der sinnlichen Präzision eines Komponisten geschaffen. Bei aller Unterschiedlichkeit eint das übrigens alle Werke Franz Meillers. Man imaginiert beim Betrachten beispielsweise eines Moped fahrenden Mädchens (Girl on moped, Ho-Chi-Minh-Stadt, 2016) oder eines Meereswellen entfliehenden Jungen (Flucht, San Sebastian, 2015) nicht nur die inhärenten (Motoren-, Brandungs-)Geräusche sondern vielfältigste Klangwelten. Meillers Bildkompositionen erzeugen im Kopf des Schauenden mannigfaltige Verknüpfungen – von harmonischen Tonfolgen bis zum dissonanten Cluster. Da kann die Konfrontation mit tosender Stille (Prozession, Niederbayern, 2010) eine willkommene, (scheinbar) erholsame Abwechslung sein.
Eine Fotografie taugt wenig als Abbild der Realität, die Objektivität fotografischer Bilder ist immer eine scheinbare. Franz Meiller macht uns das in besonders feinsinniger Weise bewusst. Er sucht und findet vermeintlich wie tatsächlich gegensätzliche, sich dennoch immer gegenseitig bedingende Pole. Er sieht, egal ob nebenan oder draußen in der Welt, immer genau und stets anders hin! Ganz gleich, ob er geduldig auf den richtigen Augenblick wartet oder spontan auslöst, immer gelingt es ihm, den entscheidenden, den unvergleichlichen und spannungsvollen Moment einer Situation, ja auch eines Gegenstandes einzufangen. Mit den Bildern eines vor oder von einem imposanten Kunstwerk laufenden Mädchens (Invasion, Normandie, 2009) und einer vor einem Bunker innehaltenden Frau (Torso, Andalusien, 2013) wird Franz Meiller zum erinnernden Chronisten. Er stellt diese Bilder bewusst gegen-, nebeneinander. Die Werke sind in sich und im Verhältnis zueinander widersprüchlich, gegensätzlich wie korrespondierend: Die beiden rot gekleideten Menschen scheinen vor den Mahnmalen fast zu verschwinden, tatsächlich behaupten sie sich und helfen dem Betrachter allein durch Körperhaltung bzw. Bewegung, die Erinnerungen an Angriff und Verteidigung, an Befreiung und Aggression deutlicher fassen zu können.
Die Mühsal des in unwirtlicher Landschaft bei schlechtem Wetter Wandernden (Heimwärts, Sizilien, 2008), die aufgeregt-konzentrierte Freude eines Wassersportlers (Wassersport, Kärnten, 2007) stehen beispielhaft für das oben genannte Thema „Was ist der Mensch?“, das auch für die Kunst Franz Meillers das bestimmende ist. Von wenigen Ausnahmen abgesehen schafft er Fotografien, in deren Mittelpunkt widersprüchlich Menschliches verhandelt wird - ohne zu versäumen, im selben oder im benachbarten Bild auf das darüber Hinausgehende, die Natur, die Schöpfung, zu verweisen. Franz Meiller nähert sich immer mit Respekt und Demut, allerdings auch mit viel Mut und noch mehr Heiterkeit Menschen, Landschaften, Horizonten, dem Ähnlichen und Nahen, dem Fernen und Fremden. Er weiß um den empathischen Umgang mit dem Lebendigen, um den angemessenen mit dem Erkalteten. Das ist sehr fein und dringend nötig. Groß, sehr groß sind die von Franz Meiller bevorzugten Formate. Bilder in Abmessungen von 3 x 4 Metern sind die Regel. Trotzdem kommen seine Fotografien, ob in leuchtenden Farben oder in schwarzweißer Melancholie, erstaunlich leicht, durchlässig und heiter einladend daher. Es könnte sein, dass die positive Energie seiner Bilder sehr viel mit einer bestimmten Arbeitsweise zu tun hat: Franz Meiller kreiert, gestaltet streng komponierend oder spontan improvisierend ausschließlich beim Aufnehmen. Nachbearbeitungen, digitale Veränderungen, Eingriffe, sind seine Sache nicht. Franz Meiller ist angetreten, die Kunsthalle Brennabor zu verzaubern. Ich gehe jede Wette ein, dass ihm das gelingen wird!
Christian Kneisel
Kurator Kunsthalle Brennabor
Franz Meiller [2polar]
Photography has changed our perception of the world and our relationship with reality. More even than moving images or paintings, it is the omnipresent medium of our times, enduring ingredient of our daily lives, confronting us in nearly all situations in life. And with ever more sophisticated technology, we are all venturing to become creative ourselves in capturing our world and – increasingly – ourselves.
Ever since photography was invented in 1839, the question of whether a mass medium can be considered art has been hotly discussed. Even the renowned photographer Henri Cartier-Bresson (1908 – 2004) stated: “Photography is a craft. Many want to turn it into an art, but we are simple craftsmen who must do a good job.” Conversely, Henry Fox Talbot (1800 - 1877), who invented the first process for printing photographs on paper, held photography to be clearly a tool for the creative mind and the artist as early as 160 years ago.
Photography received initial recognition as an art form through the epochal photographic magazine “Camera Work”, which was published by Alfred Stieglitz (1864 - 1946) and through the New York exhibition of the same name in 1917. Walker Evans (1903 - 1975) was the first photographer to whom the Museum of Modern Art dedicated a monographic exhibition in 1938. The exhibition catalogue, “American Photographs”, is the first volume in the history of photography dedicated to a single artist. The final breakthrough of photography as an internationally recognised art form came no later than 1964, aided by the “World Exhibition of Photography”, which was organised that year by nine German, Dutch and Swiss museums. Titled “What is man?”, the exhibition showcased 555 photos of 264 photographers.
Nevertheless, there are even today those who will contest the recognition of photography as an “art form in its own right”. In truth, arguments such as “the photographer can only portray the world, while the painter transcends reality” or “in photography, we cannot speak of an original due to the simple fact that innumerable prints can be made from any negative or digital image” have long been refuted.
The frequent question as to which aspects of the photographic process defines it as an art form has been amply answered by renowned art photographers and their works. Franz Meiller is one of those. His creative expressiveness and his unflappable artistic efficacy impressively demonstrate how the boundaries of perception can be crossed, shifted, explored in the fraction of a second that it takes to press the shutter to capture (= create) a moment, thus dismantling and reassembling viewing habits in the pleasantest of ways. The noble art of photography: SEEING THROUGH that which is found or arranged; PERCEIVING, passionately and/or pragmatically calculating; CAPTURING congenially and to the best of one’s ability with whatever equipment – always aware of the many devices available to allow the observer to take part in the creative process or the interpretation of its result. The two women in the street (Two Women, Munich, 2016) and the actors on stage (Hands UP, Otto Falckenberg School, 2011) are typical of the many images that invite the viewer to let their imagination reign free and to continue – or even rewrite – the story in their own words. This works unfailingly when studying photographic art but rarely so when viewing illustrations.
Meiller discovers, recognises the extraordinary in the mundane, the unique in the familiar – but always the contradictory and ambivalent in everything. His photos from Greenland (Greenland, 2012) or Greece (Covered, Greece, 2008), for example, render empty and in-between spaces clearly visible and, more than that, tangible; the works created in Düsseldorf (After the Show, 2007) and Leipzig (Arrival, 2012), which capture arrival and departure at a theatre, submerse the viewer into a rollercoaster ride between auspicious departure and nascent solitude. The list of dichotomies that interest and occupy Meiller is long. Fascinated by the black-and-white, the dark-and-bright, the colourful-and-grey and the sharp-and-blurred, he also constructs these opposites: Young–old, abstract–realistic – over and over again, naturally, yet completely different each time.
Impressive is Franz Meiller’s manifold and varied approach to the subjects of his artistic desires. The image of the boy standing by a public telephone (Ears, Cuba, 2014) is a “snapshot” that only someone who has retained the vision and spontaneity of a child can succeed in taking. Franz Meiller finds and/or creates scenes, but scenes are also looking to find him.
The work [2polar] of 2016 – passers-by in front of a Munich hair salon – was created with the delicate precision of a composer. This, by the way, is something that all of Franz Meiller’s works have in common: “There is music in all of them”. When viewing, for example, the girl riding on a moped (Girl on moped, Ho-Chi-Minh City, 2016) or the boy running from a breaking wave (Flight, San Sebastian, 2015), one imagines, much more than just the inherent sounds (of an engine or the sea), a multifaceted soundscape. Meiller’s visual compositions create numerous links and associations in the observer’s mind – from harmonic sound sequences to dissonant clusters. Amongst all these auditive impressions, the confrontation with deafening silence (Procession, Lower Bavaria 2010) comes as a welcome (seemingly) restful change.
A photograph is of little use as a reproduction of reality: any objectivity of a photo is always an illusion. Franz Meiller illustrates this with particular subtlety, regardless of what, how and where he records his images. He seeks out and finds apparently and actually opposing poles that are, nevertheless, always interdependent. Whether next door or out in the wide world, he always looks closely, and always “out of the box”. Whether patiently waiting for the right moment or pressing the shutter at a whim, he never fails to capture the decisive, the unequalled, exciting moment of a situation or even an inanimate object. As already stated: Meiller can tell a story. With the photographs of a girl running from an imposing sculpture (Invasion, Normandy, 2009) and a woman pausing in front of a bunker (Torso, Andalusia, 2013), the artist becomes a political, retrospective chronologist. Meiller quite deliberately juxtaposes these two images. Both within themselves and in relation to each other the works are as contradictory as they are consonant: Though the two people, dressed in red, seem almost insignificant in scale next to the monumental structures, they in fact play a central role in the composition, their mere posture making more tangible the memory of attack and defence, of liberation and aggression.
The trials and tribulations of walking in an inhospitable landscape in bad weather (Homeward, Sicily, 2008) and the water skier’s breathtaking yet focussed thrill (Watersport, Carinthia, 2007) are exemplary for the above-mentioned subject of “What is man?”, which is (of course) also what informs Franz Meiller’s art. With only few exceptions, he creates photographs that essentially examine the condition and contradictions of human existence while also making reference to the greater whole, to nature, to creation. Franz Meiller unfailingly approaches his subjects – be they people, landscapes, horizons, the close by and familiar or the distant and alien – with respect and humility but also with a good measure of courage and an even greater measure of cheer. He shows compassion and empathy to life and treats the moribund judiciously. That is very good and desperately needed.
Large and even larger are Franz Meiller’s preferred formats: dimensions of 3 × 4 metres are standard. Nevertheless, his photographs – whether in radiant colours or in black-and-white melancholy – present themselves light-footed, transparent and bright. It is not inconceivable that his images’ positive energy owe a lot to his particular approach: Whether strictly composing a shot or spontaneously improvising, Franz Meiller creates, crafts exclusively on location. Post-processing and photoshop edits are not his cup of tea.
Franz Meiller is proposing to transform Brennabor art gallery into a place of magic. I’m willing to bet that he will succeed!
Christian Kneisel
Curator