Franz Meiller [2polar]
Lassen Sie mich mit einer Textpassage aus Sten Nadolnys Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ beginnen. Nadolny erzählt darin die Geschichte des britischen Seeoffiziers und Entdeckers John Franklin, dessen Augen und Ohren jeden erdenklichen Augenblick eigentümlich lange festhalten konnten. John Franklin war ein langsamer Mensch.
Zitat: „John Franklin war schon zehn Jahre alt und noch immer so langsam, dass er keinen Ball fangen konnte. Er hielt für die anderen die Schnur. Vom tiefsten Ast des Baums reichte sie herüber bis in seine emporgestreckte Hand. Er hielt sie so gut wie der Baum, er senkte den Arm nicht vor dem Ende des Spiels. Als Schnurhalter war er gesegnet wie kein anderes Kind. Aus dem Fenster des Rathauses sah der Schreiber herüber. Sein Blick schien anerkennend.“
Langsamkeit wird häufig als etwas Negatives empfunden, andererseits wird der Begriff dem technischen Fortschritt, der Schnelllebigkeit und dem Leistungsanspruch unserer Zeit gegenübergestellt: denn Lebensgefühl, Menschlichkeit und Selbstgewissheit sind ohne ein Innehalten nicht möglich.
Tempo herauszunehmen bedeutet, aus einem anderen Blickwinkel zu schauen. So wie sich bei John Franklin die Eindrücke festsetzten, er die Zeit anders wahrnahm als wir, so weiß man von einigen Menschen, dass sie eine (relative) Zeitspanne zu ihren Gunsten manipulieren, dehnen können, um ihren Wahrnehmungskreis zu erweitern. Profisportler entwickeln beispielsweise eine besondere Art der Wahrnehmung: sie können den Ball in reduzierter Geschwindigkeit fliegen sehen. Abläufe zu verlangsamen, macht Sinn, ist dem Alltag aber nicht zuträglich. Oft hetzen wir von A nach B – nicht der Weg ist das Ziel sondern Ziele benötigen dummerweise Wege- besser, es ginge ohne.
Im Grunde mögen wir also keine Verzögerungen, Langsamkeit geht uns auf die Nerven. Auch die Geräte, die uns umgeben, wie Smartphones sind auf Schnelligkeit ausgelegt, alles hat schnell zu funktionieren, ja schon die Anmutung von Schnelligkeit zu suggerieren. Einige der neuesten Smartphones haben eine Live-Foto Funktion, mit der sich das fotografierte Geschehen kurz bewegt, quasi zurückspult um selbst noch die Sekundenbruchteile vor dem Entstehen festzuhalten. Diese Geräte sagen uns außerdem, was wir wann zu tun haben.
Das verschließt uns, es mangelt uns an Achtsamkeit. Natürliche Zusammenhänge unserer Welt werden nicht mehr wahrgenommen oder wir beachten sie nicht. Und wenn, geht es zu schnell. Die Momente entschlüpfen. Die Zeit verrinnt.
Diese veränderte Lebensgeschwindigkeit ist ein soziokulturelles Phänomen und Sten Nadolnys Buch eine Warnung. Sein Roman befreit den Begriff der Langsamkeit vom Negativ- Image, wendet seine ursprüngliche Konnotation ins Entspannte, und es verwundert, wie es dem Autor gelingt, damit wiederum einen Spannungsbogen aufzubauen.
Franz Meillers Fotografien setzten sich mit all diesen Themenkreisen auseinander. Die Arbeiten spielen mit den Polen Ruhe und Anspannung. Meiller fokussiert ungewöhnliche Augenblicke, Situationen, Begegnungen. Zum Beispiel seine Fotografie Bipolar.
Wir folgen einem Geschehen, das sich vor einem Gebäude mit der Aufschrift FRISEUR abspielt. Diese Aufschrift wirkt befremdlich und vertraut zugleich, besitzt eine Art Allgemeingültigkeit, es ist nicht aufgeführt, um welchen Friseur es sich handelt. Vor diesem Gebäude flitzen drei junge Frauen auf ihren Inline Skates von rechts nach links - ihre schnelle Bewegung äußert sich in den verschwommenen Konturen. Im Hintergrund geht an einem Stock, gebeugt, eine ältere Dame von links nach rechts – ein Gegensatz, wie er kontrastreicher nicht sein könnte: links – rechts, alt – jung, schnell – langsam. Am rechten Bildrand befindet sich ein Mann, er scheint regungslos, vermutlich geht er jedoch besonders langsam, so dass diese Täuschung entsteht.
Franz Meillers Fotografien schmuggeln wie nebenbei das Recht ein, die Welt in ihrer jeweiligen Geschwindigkeit zu entdecken. Jede der Fotografien spiegelt sein Gespür für das Besondere im Einfachen. Er macht auf das Naheliegende aufmerksam, setzt das, was uns vertraut ist in einen neuen Zusammenhang, verwirft gewohnte Ordnungen und weist auf Außer-ordentliches hin.
Meillers Fotos sind weder arrangiert noch nachträglich bearbeitet. Wir sind versucht dies anzunehmen, da vielfach ungewöhnliche Konstellationen abgebildet werden. Meiller wendet sich aber vehement gegen jeden Anwurf von Inszenierung. Er ist jemand, der auf der Suche ist, von kreativer Unruhe getrieben. Entdeckt Stadträume in Spiegelungen, Menschen in besonderen Situationen. Intuitiv erspürt Franz Meiller Szenarien, findet den richtigen Zeitpunkt, um das Foto zu schießen, ja, vielleicht auch mit dieser magischen Fähigkeit, einen Zeitraum zu dehnen.
Gute Fotografen, übrigens auch gute Künstler aus dem bildenden Metier lassen sich durchaus und explizit auf das Unvorhersehbare ein. Henning Christiansen, ein Weggefährte von Joseph Beuys schrieb vor Jahren einmal auf eine der Wände unseres Museums (Kunsthalle Rostock, Anm.d.Verf.): „Die Freiheit ist um die nächste Ecke“. Er meint damit, das Überraschende, das Überwältigende findet nur statt, wenn man vorher im Ungewissen ist und nicht voraussehen kann, was passieren wird, wenn man um die Ecke biegt.
Wie die Titelschilder der Fotografien verraten, reist Meiller durch die Welt. Er fotografiert oft von ungewöhnlichen Standorten aus, kreiert besondere Bildausschnitte, schafft Metaphern. In einigen seiner Bilder scheint die Zeit zu fließen, in anderen nicht zu vergehen.
Die alten Griechen unterschieden zwischen Chronos, dem bloßen Zeitablauf, und Kairos, dem erfüllten Jetzt. Es gibt sie, diese Augenblicke, die ganz erfüllt sind, und für einen Fotografen sind sie nicht nur reiner Zufall sondern das komprimierte Ergebnis langen Suchens, auch der Sehnsucht dieses Suchens. Nach einer anderen Wirklichkeit.
„Wirklichkeit ist nicht, was schlicht der Fall ist, sondern was sich unter bestimmten Bedingungen verwirklicht,“ sagt der Philosoph Bernhard Waldenfels.
Meine Damen und Herren, die Fotografien von Franz Meiller erzählen Geschichten von Menschen und Orten. Emotional, aber immer mit einem wachen Blick für die Komposition. Ich finde, Meillers Bilder sind großartige Reflexionen unserer Lebenswelt.
Und bei Malte Ubenauf finde ich folgendes Zitat:
Meillers Bildsprache und damit seine Erzählung von paradoxen Gefühlslagen, Unruhezuständen, fragilen Glücksmomenten, Alltagsritualen und gebremsten Leidenschaften ist verstörend, weil sie die Unvereinbarkeit von Begriffen und Empfindungen auf den Punkt bringt.
Dr. Ulrich Ptak
Kurator Kunsthalle Rostock